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Vietnamesen in Berlin

27. September 2010

Rund 15.000 Vietnamesen leben in Berlin. Sie kamen einst als "Boat-People" oder als Vertragsarbeiter und gelten als vorbildlich integriert. Anders sieht das bei vielen neu Eingewanderten aus.

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Vietnamesen (Foto: DW)
"Viele kommen schwer traumatisiert hier an"

Suan steht in der Gemeinschaftsküche des Wohnheims "Pro-social", ein grau-rot gestrichener Plattenbau in Berlin-Marzahn: Links an der Wand vier Herde, darauf Pfannen, in denen Frühlingsrollen brutzeln und Töpfe mit Reissuppe. Zusammen mit zwei anderen jungen Vietnamesinnen zerteilt sie Hühnchen, hackt Frühlingszwiebeln. Zum Essen erwarten sie heute Gäste: Es ist interkulturelle Woche in Berlin, mit der die christlichen Kirchen auf die Situation von Migranten aufmerksam machen wollen - und die Wohnheimleitung hat zusammen mit dem Verein Reistrommel, der sich seit 1993 für die Belange vietnamesischer Migranten einsetzt, zum "Tag der offenen Tür" geladen.

Vor fünf Jahren sei sie nach Deutschland gekommen, erzählt Suan, 15 Jahre alt sei sie da gewesen. "Ich hatte die Hoffnung, in Deutschland Geld zu verdienen und damit meine Familie in Vietnam unterstützen zu können". 8000 Euro lieh ihre Familie sich für die Reise zusammen - Schulden, die Suan in Deutschland abarbeiten musste. Sie verkaufte Schmuggelzigaretten vor einem Supermarkt. Als ihr Sohn vor zwei Jahren auf die Welt kam, sagt sie, habe sie damit aufgehört. Mit ihm zusammen wohnt sie seither hier im Wohnheim, in einer sparsam möblierten Wohneinheit, von 280 Euro Sozialhilfe im Monat. Geld an die Familie kann sie nicht schicken.

Oft kaum Bereitschaft zur Integration

Schwarz-Weiß-Bild Ende der 70er Jahre mit Vietnamesen in einer Fabrik (Foto: dpa)
Ende der 1960er Jahre kamen Vietnamesen als Vertragsarbeiter in die DDRBild: picture-alliance/ ZB

68 Vietnamesen leben derzeit insgesamt im Wohnheim, 27 davon sind minderjährig. Suan habe Glück gehabt, sagt Tamara Hentschel vom Verein Reistrommel. "Viele von denen, die sich zumeist als Teenager auf den Weg nach Europa machen, kommen schwer traumatisiert hier an, haben Hunger, Gewalt und sexuelle Übergriffe erfahren. Nicht wenige überleben die Reise nicht." Und zum illegalen Zigarettenhandel in Deutschland habe sich längst die Prostitution gesellt.

Sich um die Neuzugewanderten zu kümmern, berichtet Hentschel, ihnen bei Behördengängen und im Asylverfahren zu helfen, sei zudem oft schwierig. Denn anders als viele der Vietnamesen, die Ende der 1960er Jahre als Vertragsarbeiter in die DDR kamen oder in den 1970er Jahren als "Boat-People" vor den Kommunisten nach West-Berlin flüchteten, stammten die "Neuen" meist aus Mittelvietnam, seien in Armut aufgewachsen und hätten kaum Schulbildung erfahren. "Ihr Bildungsstand ist oft niedrig und sie haben fast gar keine Motivation, sich zu integrieren. Sie wollen Geld verdienen, um ihre Familien zuhause zu unterstützen, und dem ordnen sie alles unter. Wenn wir uns dafür nicht interessieren, entstehen Parallelgesellschaften. Das wollen wir möglichst verhindern."

Ihr Verein organisiert daher Deutschkurse, Feste, Ausflüge, Kinderbetreuung und Schülernachhilfe. Und bildet die "Kulturdolmetscher" aus - bereits lange in Deutschland lebende Vietnamesen. Sie sollen zum einen in Schulen und Kindergärten zwischen vietnamesischen Kindern und Eltern und den deutschen Mitschülern und Lehrern vermitteln und zum anderen zwischen den vietnamesischen Migranten selbst.

Spannungen zwischen Neuankömmlingen und Etablierten

Ein Vietnamese übergibt einem anderen eine Stange Zigaretten (Foto: AP)
Viele leben heute vom ZigarettenschmuggelBild: AP

Denn für viele der ehemaligen Boat-People und Vertragsarbeiter, berichtet Tamara Hentschel, seien die heutigen vietnamesischen Asylbewerber tabu. "Zwischen uns und den Vietnamesen, die schon lange hier leben, erlebe ich oft eine richtige Grenze", sagt Suan. Wer sich in jahrelanger harter Arbeit einen legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland erkämpft habe, sich mit einem Restaurant, einem Textil- oder Lebensmittelgeschäft etabliert habe und immer peinlich auf eine gute Schulbildung der eigenen Kinder geachtet habe, wolle eben nicht in Verbindung gebracht werden mit Zigarettenschmuggel, "Vietnam-Bordellen" oder Schulversagern, versucht Dao Tschan, selbst Kulturdolmetscherin und seit 20 Jahren in Deutschland, zu erklären.

"Die Leute damals hatten Wunschkinder", sagt sie, "und haben sehr darauf geachtet, dass ihre Kinder eine gute Zukunft in Deutschland haben können. Viele der Vietnamesinnen heute bekommen 'Zweckkinder', sobald sie 18 sind, um einen Aufenthaltstitel zu erlangen."

Vorbildliche Integration ist oft Trugschluss

Auch die Politik schmücke sich nur zu gern mit den vorbildlich integrierten "Alteingesessenen" und mit den guten Schulleistungen ihrer Kinder, sagt Tamara Hentschel. Und kritisiert, dass so nicht nur über die akuten Probleme der vietnamesischen Asylbewerber hinweggetäuscht werde, sondern auch über die Probleme, die innerhalb vieler Familien ehemaliger Boat-People und Vertragsarbeiter herrschten: "Es entsteht oftmals der Eindruck, als wenn für die Vietnamesen gilt: Sie haben es geschafft, es ist gut. Aber es ist eben nicht gut. Es gibt große Probleme in vielen Familien. Die Eltern haben meist viel Kraft lassen müssen, um ihren Aufenthalt zu erringen - und die Integration ist auf der Strecke geblieben. Sie haben schlechte Deutschkenntnisse, müssen nach wie vor lange arbeiten. Sie haben wenig Zeit für ihre Kinder und es gibt fast keine Kommunikation in den Familien." Immer öfter erlebe sie es in letzter Zeit, dass das Jugendamt vietnamesische Jugendliche aus ihren Familien herausnimmt - weil diese den Wunsch geäußert haben, nicht mehr zuhause zu leben, berichtet Hentschel.

Und noch eine Sache wartet zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs darauf, beigelegt zu werden: Noch immer gibt es kaum Kontakte zwischen den ehemaligen Boat People im Westen und den ehemaligen Vertragsarbeitern im Osten. Zwischen denen, die vor den Kommunisten flüchteten, als Südvietnam 1975 an den Norden fiel, und denen, die dem Ruf des sozialistischen Bruderlandes DDR folgten, das Arbeitskräfte suchte.

Autorin: Lydia Heller
Redaktion: Hartmut Lüning